Über das Projekt

Motivation und Hintergrund

Im öffentlichen Diskurs wird die Digitalisierung als Transformationsprozess verstanden, der alle gesellschaftlichen Bereiche tiefgreifend verändert. Die Arzneimittelversorgung als wesentliche Säule des Gesundheitssystems zeigt sich als besonders interessanter Bereich. Über Jahrhunderte entwickelte sich in diesem Bereich eine tief verankerte institutionelle Struktur, die sich prägend in allen westlichen Gesellschaften manifestiert hat. Im Mittelpunkt steht die institutionelle Trennung der Berufe von Arzt und Apotheker. Die Verbreitung digitaler Technologien hat in verschiedensten Bereichen, einschließlich des Gesundheitswesens, zum Aufbau von Plattformen geführt. Durch sie werden neue Formen der Orchestrierung von Leistungsnehmern und -gebern ermöglicht. Aktuell werden Plattformen aufgebaut, die die medizinische Beratung und die Versorgung mit Medikamenten aus einer Hand anbieten, um so die Integration von pharmazeutischen und medizinischen Dienstleistungen zu unterstützen; in diesem Zusammenhang wird die Aufhebung der „historischen Trennung“ der Berufe von Arzt und Apotheker gefordert. Es stellt sich die Frage, ob sich diese Plattformisierung als zwangsläufiges Ergebnis der digitalen Transformation in der Arzneimittelversorgung ergibt.
In der historischen Betrachtung zeigt sich, dass die institutionelle Trennung der beiden Berufe im Verlauf der europäischen Geschichte immer wieder angefochten wurde, aber bisher durch kontinuierliche Anpassungen der Regeln aufrechterhalten werden konnte. Dieser Bereich ist daher besonders interessant für die Untersuchung der digitalen Transformation der Gesellschaft als Ganzes, da er einen „kritischen Fall“ darstellt. Die Untersuchung, wie auf die verschiedenen Herausforderungen im Zuge vergangener gesellschaftlicher Umwälzungen reagiert wurde, kann Aufschlüsse über die zugrundeliegenden Mechanismen und Dynamiken des gesellschaftlichen Wandels geben, einschließlich der gegenwärtigen Phase, die durch das Aufkommen einer neuen Generation digitaler Technologien gekennzeichnet ist.

Forschungsfrage

Kann sich der Bereich der Arzneimittelversorgung der Plattformisierung entziehen? Wenn ja, was sind die Quellen einer solchen Widerstandsfähigkeit? Wenn nicht, wie wirkt sich dies auf die institutionelle Tiefenstruktur des Bereichs aus?

Methoden und Ansätze

In diesem Projekt werden drei Perioden untersucht, in denen die Organisation der Arzneimittelversorgung erhebliche Veränderungen erfahren hat. In der ersten Periode (1800-1850) erreichte die gemeinsame Praktik von Apothekern und Ärzten bei der Formulierung komplexer Arzneimittel, die sogenannte Rezeptierkunst, einen Höhepunkt innerhalb der Grenzen der institutionellen Trennung der beiden Berufe. In der zweiten Periode (1910-1938) wurden die Krankenkassen zu einer Vorform der modernen Plattformen, indem sie Apotheker und Ärzte unter Vertrag nahmen, strenge Beschränkungen für die zu verschreibenden und abzugebenden Arzneimittel auferlegten und die Preise mit den Apothekern aushandelten. Dies führte zu einer vollständigen Trennung der beiden Berufe in dem Sinne, dass die gemeinsame Praktik der Arzneimittelherstellung verloren ging. In der dritten, der aktuellen Periode (2010-2025) hat sich erneut die Möglichkeit ergeben, eine gemeinsame Praktik zu entwickeln, die die Berufe von Apothekern und Ärzten wieder näher zusammenbringt, nämlich das Medikationsmanagement. Um die Art und Weise zu erfassen, wie sich die gegenwärtigen Praktiken verändern, wird die vor zehn Jahren gegründete Learning Community in Aachen genutzt, die sich mit der Entwicklung der Informationsinfrastruktur in der pharmazeutischen Vertriebsindustrie befasst.
Schließlich wird seit mehr als 10 Jahren ein Blog zu den relevanten Ereignissen in der Pharmadistribution geführt, in welchem aktuelle Ereignisse wie die Entstehung und Lösung von Konflikten zwischen Apothekern und Ärzten festgehalten werden. Dieser wird fortgeführt und durch aktuelle Gerichtsverfahren und anderes Dokumentationsmaterial zu laufenden Konflikten und deren Beilegung in der Branche ergänzt.